Ich habe lang überlegt, ob ich das hier überhaupt schreiben soll. Ich bin kein Profi und kann mich auch nicht so gut ausdrücken. Aber ich habe damals selbst nach sowas gesucht – nach Berichten von Leuten, die dasselbe haben wie ich. Die vielleicht schon weiter sind als ich und wissen, was hilft und was man besser sein lassen sollte. Aber bis auf ein paar ziemlich wirre Foreneinträge war da nichts. Also mach ich das jetzt – in der Hoffnung anderen die heftigen Erfahrungen zu ersparen, die ich machen musste. Aber jetzt von Anfang an:
Ich habe Emetophobie. Heißt: Ich krieg Panik, wenn ich das Gefühl habe, irgendwer in meiner Nähe könnte anfangen zu kotzen. Wenn mir das selbst passieren würde, wäre das noch schlimmer, aber da passe ich auf. Auf meinen Teller kommt nichts, was nicht hundertprozentig durchgekocht ist. Kein Sushi, keine rohen Eier, kein Medium-Steak. Ich wasche mir ständig die Hände und trage sogar oft Handschuhe in der Öffentlichkeit. Meine Freunde halten mich für verrückt, aber sie wissen nicht, wie es ist, wenn dein Herz rast und du nicht mehr atmen kannst, nur weil jemand sagt, dass ihm schlecht ist.
Es fing schon in der Grundschule an. Da war ein Mädchen, das sich im Unterricht übergeben hat. Alle anderen fanden es eklig, aber haben schnell wieder darüber gelacht. Ich nicht. Ich konnte wochenlang nicht mehr in die Schule gehen. Meine Eltern dachten erst, ich will mich nur drücken. Bis ich angefangen habe, nachts vor Angst zu weinen und nicht mehr zu essen.
Mit 16 kam dann der erste richtige Zusammenbruch. Auf einer Klassenfahrt hat jemand zu viel getrunken und… na ja, ihr könnt es euch denken. Ich bin panisch weggerannt, habe mich in einem Badezimmer eingesperrt und bin erst wieder rausgekommen, als die Lehrerin mit einem Schlüssel kam. Die dachte, ich hätte Drogen genommen oder so. Als ob.
Ich bin jetzt 27 und arbeite als Bürokauffrau. Ein ruhiger Job, wo ich wenig mit Menschen zu tun habe. Perfekt für jemanden wie mich. Dachte ich zumindest, bis mein Chef darauf bestand, dass ich an Kundenveranstaltungen teilnehme. Da gibt es Essen, Getränke und Alkohol. Mein persönlicher Albtraum. Nach meinem dritten krankgeschriebenen Event hat er mich zum Gespräch gebeten. “Entweder Sie machen mit oder wir müssen über ihre Zukunft in diesem Unternehmen nachdenken.”
So bin ich bei der Psychotherapeutin gelandet. Sie war nett, hatte aber zumindest für mein Gefühl keine Ahnung von Emetophobie. “Konfrontationstherapie ist der Goldstandard bei Phobien”, sagte sie. Und dann ging der Horror los.
Wir sind zum Bahnhof gegangen. Zum. Verdammten. Bahnhof. Um nach Erbrochenem zu suchen. Ich zitterte am ganzen Körper, während sie mich durch die dreckigen Ecken führte. “Schauen Sie genau hin”, sagte sie. “Die Angst wird nachlassen, wenn Sie sich lange genug konfrontieren.” Hat sie nicht. Ich hatte danach drei Tage lang Albträume.
Nach sechs Wochen dieser Folter bekam ich einen Platz in einer psychosomatischen Klinik. Endlich professionelle Hilfe, dachte ich. Falsch gedacht. Dasselbe Programm, nur intensiver. Sie zeigten uns Videos von Menschen, die sich übergeben. Ließen uns Geschichten dazu schreiben. Brachten uns in Situationen, wo wir dachten, jemand könnte krank werden.
Ich war kurz davor, alles hinzuschmeißen, als ich eine andere Patientin traf. Sie hatte auch Emetophobie, war aber schon viel weiter als ich. Heimlich schauten wir auf ihrem Handy den Videokurs “Endlich angstfrei!”. Die Vorgehensweise dort war komplett anders als das, was in der Klinik gemacht wurde. Keine brutale Konfrontation, sondern eine nachvollziehbare Erklärung, wie man seine Angstsymptome selbst immer mehr verstärkt, ohne es zu merken. Und was noch wichtiger war: Konkrete Gegenmaßnahmen in Form eines besonderen Mentaltrainings. Das übten wir heimlich und schon nach wenigen Tagen stellten sich erste Erfolge ein. Die in der Klinik dachten, das wäre ihr Erfolg, doch uns war das egal.
Als ich nach Hause kam, habe ich weitergemacht. Ich holte mir auch den Videokurs und verinnerlichte die 10-Satz-Methode und die 5-Kanal-Technik. Zusätzlich trainierte ich Angst-Stopp-Techniken um meine nervigen inneren Dialoge zu stoppen, dieses permanente „was wenn“. So lernte ich langsam aber sicher wieder meine Gedanken zu kontrollieren, anstatt von ihnen kontrolliert zu werden. Statt mich zwanghaft mit meiner Angst zu konfrontieren, verstand ich endlich, wie ich selbst Angst erzeugte und wie ich diesen Prozess stoppen konnte. In der Klinik erzählten Sie uns: „Wenn Du einmal eine Angststörung hattest, wird sie dich dein Leben lang begleiten. Du kannst lernen, mit ihr zu leben und sie nicht mehr so erst zu nehmen, aber sie wird immer ein Teil von dir blieben.“
Heute kann ich mit Gewissheit sagen: Lasst Euch sowas bloß nicht einreden! Ich gehe wieder auf Partys, esse in Restaurants, trinke gerne Cocktails mit meinen Freundinnen und neulich habe ich sogar einer die Haare hochgehalten, als es doch ein Cocktail zu viel war. Klar fand ich das ekelig – aber mehr auch nicht. Von Panik keine Spur! Wir konnten nachher sogar Witze darüber machen.
Bitte versteht mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass Menschen es nicht auch mit Expositionstherapie schaffen können, eine Emetophobie oder irgendeine andere Angststörung loszuwerden. Ich sage nur, dass es für mich die Hölle war. Zumal ich es später ganz ohne Konfrontation und nur mit positiven Visualisierungstechniken geschafft habe, vollständig angstfrei zu werden. Warum sich also quälen, wenn eine funktionierende Therapie auch viel angenehmer sein kann? Und genau deshalb habe ich auch diesen Erfahrungsbericht geschrieben. Damit möglichst viele verstehen: Es gibt einen Weg aus der Emetophobie – und der muss weder quälend noch ekelig sein.

Svenja J. aus Bremerhaven