Ohne Wartezeit auf Therapie

Wie Agoraphobie und Panikattacken mir letztlich mein Leben zurückgaben

Als Ärztin wusste ich genau, was mit mir geschah – zumindest dachte ich das. Die Symptome waren eindeutig: Das Herzrasen, wenn ich nur daran dachte, ins Einkaufszentrum zu gehen. Die Schweißausbrüche in der U-Bahn. Das Gefühl, keine Luft zu bekommen, wenn zu viele Menschen um mich herum waren. Agoraphobie mit Panikattacken – eine Diagnose, die ich bei Patienten schon oft gestellt hatte. Nur jetzt war ich selbst betroffen.

Mein erster Behandlungsversuch: Selbstmedikation

Anstatt mir Hilfe zu suchen, tat ich das, was viele Ärzte tun: Ich behandelte mich selbst. Mit meinem medizinischen Hintergrund war ich überzeugt, meiner Angst mit der richtigen Medikation beikommen zu können. Ich probierte verschiedene Antidepressiva aus, stellte Dosierungen um, wechselte von einem Präparat zum nächsten.

Das Ergebnis? Acht Kilogramm mehr auf der Waage, chronische Müdigkeit und eine Antriebslosigkeit, die fast schlimmer war als die Angst selbst. Was mich am meisten frustrierte: Meine Panikattacken wurden dadurch kein bisschen besser. Ich – die Ärztin, die anderen half – konnte mir selbst nicht helfen.

Die Klinik: Eine ernüchternde Erfahrung

Nach einem besonders schlimmen Panikanfall, bei dem ich mitten in einer Teambesprechung fluchtartig meine eigene Praxis verlassen musste, gab ich auf. Ich beantragte einen sechswöchigen Aufenthalt in einer renommierten psychosomatischen Klinik. „Endlich richtige Hilfe,“ dachte ich. Die Realität sah anders aus.

Statt konkreter Werkzeuge zum Umgang mit meiner Angst gab es vor allem viel Gruppentherapie, in der wir über unsere Ängste sprachen. Mit jedem Gespräch schien meine Angst größer statt kleiner zu werden. Als ich das ansprach, wurde mir ernsthaft erklärt: „Sie müssen Ihre Angst erst annehmen, bevor Sie sie loslassen können.“

Der Höhepunkt kam, als man mir Tavor Expidet verschrieb – ein Benzodiazepin, dessen Abhängigkeitspotenzial ich als Ärztin nur zu gut kannte. Als ich Bedenken äußerte, wurde dies mit einem „Bei korrekter Einnahme ist das Risiko überschaubar“ abgetan. Ich war schockiert. Genau das sagte ich auch meinen Patienten nie – und das aus gutem Grund.

Ich verließ die Klinik nach sechs Wochen frustrierter als zuvor. Meine Ängste waren schlimmer geworden, und ich hatte das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken.

Der Wendepunkt: Eine Freundin mit neuen Methoden

„Das musst du ausprobieren,“ sagte meine Kollegin und gute Freundin Sabine eines Tages zu mir. Sie hatte gerade eine Fortbildung am Institut für moderne Psychotherapie absolviert und strahlte vor Begeisterung. „Es ist völlig anders als alles, was wir in unserem Medizinstudium gelernt haben.“

Skeptisch war ich, aber verzweifelt genug, um alles zu versuchen. Sabine brachte mir einige der Techniken bei – die visuelle Schiebe-Technik, bei der man angstauslösende Bilder buchstäblich aus dem Sichtfeld schiebt, die 10-Satz-Methode zur Neuprogrammierung des Gehirns und sogar eine einfache Übung, mit der man kreisende Gendanken binnen Sekunden stoppen kann. Die letzte Übung klappte sofort bei mir und machte Hoffnung auf mehr. Ich hielt mich an Ihre Ratschläge und zu meiner Überraschung spürte ich bereits nach zwei Wochen regelmäßigen Übens mit den erlernten Techniken eine deutliche Verbesserung. Das ständige Grundgefühl der Angst ließ nach. Nach einem Monat konnte ich wieder ohne Panik in den Supermarkt gehen. Und nach drei Monaten geschah etwas, das ich nicht mehr für möglich gehalten hatte: Meine Panikattacken verschwanden vollständig.

Von der Patientin zur Therapeutin

Der Erfolg motivierte mich, mehr zu lernen. Ich meldete mich ebenfalls für die komplette fünftägige Ausbildung zur Angsttherapeutin nach der Bernhardt-Methode an. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, dort so viele Ärzte und Psychotherapeuten vorzufinden, die selbst schon mit Angststörungen zu kämpfen hatten. Dennoch war die gemeinsame Zeit dort ganz anders, als ich das in der Klinik erlebt hatte. Wir lachten viel, lernten noch mehr und lösten buchstäblich einen Knoten nach dem anderen in unserem Kopf. Für mich änderten diese fünf Tage nicht nur mein Verständnis von Angststörungen, sondern schlicht mein ganzes Leben.

Ich lernte, dass Angst ein erlerntes Verhalten ist – und somit auch wieder verlernt werden kann. Dass das Gehirn neue Bahnen bildet, wenn wir ihm konsequent neue Wege zeigen. Und vor allem: Dass viele unserer vermeintlichen Einschränkungen in Wirklichkeit nur negative Glaubenssätze sind, die wir als Wahrheit akzeptiert haben.

Ein Satz aus der Ausbildung hallte besonders stark in mir nach: „Du musst nicht gesund werden, um das Leben deiner Träume zu leben – du darfst anfangen, das Leben deiner Träume zu leben, damit du endlich wieder gesund werden kannst.“

Die wahre Ursache meiner Angst

Während der Ausbildung wurde mir plötzlich klar, was der eigentliche Auslöser meiner Angststörung war. Es war nicht der Verkehr, nicht die Menschenmengen, nicht einmal die Furcht vor einer Panikattacke selbst. Es war meine Praxisgemeinschaft mit Herrn Dr. M.
Seit Jahren teilte ich mir meine Praxis mit ihm, und seit Jahren fühlte ich mich dort zunehmend unwohl. Wir hatten unterschiedliche Vorstellungen von Patientenbetreuung, stritten uns über Personalfragen und kommunizierten kaum noch miteinander. Jeder Arbeitstag war ein emotionaler Kraftakt.

Dennoch hielt ich an dieser Situation fest, gefangen in dem unerschütterlichen Glaubenssatz: „Ich kann mich nicht von ihm trennen, sonst ist meine berufliche Existenz in Gefahr.“

In einer Übung zur Hinterfragung von Glaubenssätzen während der Ausbildung, musste ich diesen Gedanken prüfen: „Ist das wirklich wahr? Kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich beruflich scheitern würde?“

Je tiefer ich grub, desto klarer wurde mir: Es war eine unhinterfragte Annahme, keine Tatsache. Als Hausärztin mit gutem Ruf würde ich ohne Probleme eine neue Praxis aufbauen können. Vielleicht sogar eine, in der ich meinen eigenen Vorstellungen von guter Medizin folgen könnte.

Ein neues Leben ohne Angst

Zwei Wochen nach der Ausbildung führte ich das entscheidende Gespräch mit meinem Kollegen und gefasst erklärte ich ihm, dass ich unsere Praxisgemeinschaft auflösen möchte. Zu meiner Überraschung war er erleichtert – offenbar hatte auch er unter der Situation gelitten.

Die Trennung verlief reibungsloser als erwartet. Innerhalb weniger Monate hatte ich meine eigene kleine Praxis eröffnet. Und das Erstaunlichste: Mit dem Tag, an dem ich meinen letzten Patienten in der alten Praxis behandelt hatte, war meine Angststörung wie weggeblasen.

Ich kann jetzt wieder überall hingehen. U-Bahn fahren, einkaufen, in vollen Restaurants essen – all das, was mir früher unmöglich erschien, ist wieder selbstverständlicher Teil meines Lebens. Aber das Wichtigste ist: Ich bin nicht nur äußerlich wieder frei, sondern auch innerlich.

Was ich heute anders mache

Heute führe ich meine eigene Praxis, in der ich neben der allgemeinmedizinischen Versorgung auch Angstpatienten mit den Methoden behandle, die mir selbst geholfen haben. Ich sehe jetzt, dass meine eigene Erfahrung mit Angst kein Zufall war, sondern ein Weg, um eine bessere Ärztin zu werden.

Was ich aus dieser Erfahrung mitgenommen habe:

  • Unsere Ängste haben oft eine wichtige Botschaft für uns. Sie zeigen uns, wo wir uns selbst nicht treu sind oder wo wir Veränderungen vornehmen müssen.
  • Das Gehirn reagiert erstaunlich schnell auf neue positive Inputs, wenn wir ihm gezielt und regelmäßig die richtigen Signale geben.
  • Die stärksten Gefängnisse sind oft die, die wir selbst bauen – durch Glaubenssätze, die wir nie hinterfragt haben.
  • Medikamente können in manchen Fällen wichtig sein, aber sie lösen selten die tieferen Ursachen psychischer Probleme.

Manchmal denke ich, dass meine Angststörung das Beste war, was mir passieren konnte. Sie zwang mich, mein Leben grundlegend zu überdenken und den Mut zu finden, es zu verändern. Heute bin ich nicht nur trotz, sondern dank meiner überwundenen Angst glücklicher als je zuvor.

Für alle, die gerade eine ähnliche Erfahrung durchmachen: Es gibt einen Weg heraus, und er ist vielleicht kürzer, als Sie denken. Manchmal müssen wir nur bereit sein, neue Pfade zu beschreiten und alte Überzeugungen loszulassen.

Alexandra-Marie W., München

Alexandra-Marie W. aus München