Ohne Wartezeit auf Therapie

Täglich Panikattacken, doch dann endete der Höllentrip über Nacht

Als ich vor zwei Jahren mit meiner ersten schweren Panikattacke in der Innenstadt zusammenbrach, ahnte ich nicht, dass dies der Beginn einer Odyssee sein würde, die mein gesamtes Leben auf den Kopf stellen sollte.
Mit 30 Jahren hatte ich eigentlich alles, was man sich wünschen konnte: einen guten Job als Projektleiter, eine Ehefrau, die meine Eltern über alles liebten, und ein scheinbar perfektes Leben. Doch an jenem Samstag im April änderte sich alles. Mitten auf dem belebten Marktplatz überkam mich plötzlich ein überwältigendes Gefühl von Enge und Panik. Mein Herz raste, ich bekam keine Luft mehr, Schweiß brach aus und ich war überzeugt, jeden Moment zu sterben.
Diese erste Attacke war so traumatisch, dass ich begann, Orte zu meiden, an denen ich mich „gefangen“ fühlen könnte. Erst waren es überfüllte Plätze, dann öffentliche Verkehrsmittel, später sogar Supermärkte und schließlich fast alles außerhalb meiner Wohnung. Die Diagnose: Agoraphobie mit Panikstörung.

Agoraphobie und Panikattacken: Ein Erfahrungsbericht

Ich weiß nicht, wie viele schon das Netz nach Erfahrungsberichten durchforstet haben (so wie ich), nachdem der Arzt ihnen so eine Diagnose präsentiert hat. Ich weiß jedoch, wie enttäuschend meine Suche verlaufen ist. Deshalb habe ich mir damals geschworen: Wenn Du das überstehst, schreibst Du den Erfahrungsbericht, den Du selbst gerne gelesen hättest. Etwas, das anderen vielleicht helfen kann, besser zu verstehen, was da abläuft. Sicher lassen sich meiner Erfahrungen nicht auf jeden übertragen, der unter einer Agoraphobie oder Panikattacken leidet. Aber wenn nur zwei, drei Leute sich in dem wiederfinden, was mir widerfahren ist, dann hat sich die Mühe schon gelohnt. In diesem Sinne – los geht’s:

Die ersten Wochen waren besonders einschneidend: „Bitte nicht jetzt“, wurde zu meinem ständigen Begleiter – diesem verzweifelten Gedanken, der durch meinen Kopf schoss, sobald ich das Haus verlassen musste. Mein Leben schrumpfte auf die eigenen vier Wände zusammen, und mit ihm auch meine Beziehung.

Der Weg zur Arbeit wurde zur Tortur. Meetings, die ich früher souverän geleitet hatte, musste ich absagen oder online abhalten. Als es nicht mehr ging, nahm ich eine Auszeit. Niemand verstand wirklich, was mit mir los war – am wenigsten ich selbst.

Ich probierte alles, was die moderne Medizin zu bieten hatte:

  • Verhaltenstherapie mit schrittweiser Konfrontation
  • Atemübungen und progressive Muskelentspannung
  • Verschiedene Antidepressiva wie Citalopram und Venlafaxin, die angeblich helfen sollten
  • Sogar eine mehrwöchige Therapie in einer psychosomatischen Klinik

Nichts funktionierte dauerhaft. Die Angst kehrte immer wieder zurück, oft noch stärker als zuvor. Panikattacken hatte ich mittlerweile täglich, aber wenigstens hatte ich für Notfälle ein Medikament, das wirklich half.

In der Klinik bekam ich nämlich Benzos verschrieben – starke Beruhigungsmittel, die mich tatsächlich innerhalb von 15 Minuten runterbrachten. Sie dämpften meine Angst so weit, dass ich wichtige Termine wieder wahrnehmen konnte. Doch ich nahm sie nur in absoluten Ausnahmesituationen, nachdem ich in der Klinik mehrere Patienten kennengelernt hatte, die von diesen Medikamenten abhängig geworden waren. Ihre Entzugsgeschichten gehörten zu den schlimmsten Erfahrungen, die ich je gehört hatte – Zitteranfälle, tagelange Schlaflosigkeit, extreme Angstzustände, die Wochen anhielten.

„Dieser Entzug ist die Hölle auf Erden“, hatte mir ein älterer Patient anvertraut. „Nimm die Dinger nur, wenn es gar nicht anders geht.“

Nach fast zwei Jahren des Leidens passierte dann, was irgendwann passieren musste: Meine Frau packte ihre Koffer. „Ich kann das nicht mehr“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Ich habe versucht, stark zu sein, aber ich erkenne unser Leben nicht wieder. Ich erkenne Dich nicht wieder.“

Ich hatte mit diesem Moment gerechnet und zugleich schreckliche Angst davor gehabt. Unsere Beziehung war schon vor meiner Erkrankung nicht mehr erfüllend gewesen, aber die Vorstellung, sie zu verlassen, hatte ich nie gewagt. Meine Eltern liebten sie, träumten von Enkelkindern – und ich war nicht bereit, sie zu enttäuschen.

Was dann geschah, verblüffte mich: Statt in eine tiefere Krise zu stürzen, fühlte ich am nächsten Morgen eine seltsame Ruhe. Die ständige Anspannung, das Herzrasen waren verschwunden. Ich ging nach draußen, um einen klaren Kopf zu bekommen – und konnte es. Ohne Panik. Ohne Angst. Als sei ein Schalter umgelegt worden.

Wochen später stellte mir mein neuer Psychotherapeut eine ungewöhnliche Frage: „Haben Sie schon vor Ihrer Erkrankung an Trennung gedacht?“ Die Frage traf mich unerwartet. Ja, hatte ich. Aber ich hatte den Gedanken immer schnell wieder verdrängt.

„Was Sie erlebt haben“, erklärte er mir, „nennen wir in der Psychologie einen „sekundären Krankheitsgewinn“. „Ihre Agoraphobie hatte neben all dem Leid, das sie Ihnen bereitete, auch einen verborgenen Nutzen: Sie hat dafür gesorgt, dass Ihre ohnehin schon angeschlagene Beziehung sich so sehr verschlechtert hat, dass einer von beiden bereit war, endlich zu gehen.“

Je länger wir sprachen, desto klarer wurde das Bild. Mein Unterbewusstsein hatte einen radikalen Ausweg gewählt, um mich einerseits vor einer Entscheidung zu bewahren, die ich nicht treffen wollte, aber andererseits dennoch die nötige Veränderung einzuleiten. Die Panikattacken waren wie ein Notausgang aus einem Dilemma: Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen, konnte aber in der Beziehung nicht mehr glücklich sein. Als meine Frau schließlich die Entscheidung für mich traf, verschwand die Angst, weil sie ihren „Zweck“ erfüllt hatte.

Das war vor einem Jahr. Heute führe ich ein Leben, das ich während meiner Angststörung nicht für möglich gehalten hätte. Ich bin wieder voll berufstätig, treffe Freunde und kann sogar wieder in überfüllten U-Bahnen fahren, ohne in Panik zu geraten.

Das Verhältnis zu meinen Eltern hat sich nach anfänglichen Schwierigkeiten sogar verbessert. Als ich ihnen schließlich die ganze Geschichte erzählte, waren sie betroffen, dass ich mich so unter Druck gesetzt gefühlt hatte. „Wir wollen doch nur, dass du glücklich bist“, sagte meine Mutter unter Tränen.

Meine Ex-Frau und ich haben inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis. Sie hat einen neuen Partner gefunden und ist glücklich.

Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Zeit ist für mich: Unser Unterbewusstsein ist mächtiger, als wir ahnen. Wenn ich heute auf diese zwei Jahre zurückblicke, dann nicht mit Bitterkeit, sondern mit einem gewissen Verständnis. Meine Angst war kein Feind, sondern ein unbeholfener Versuch meiner Psyche, mit einer für mich unlösbaren Situation umzugehen.

Heute nehme ich meine Gefühle und Bauchentscheidungen ernster. Ich höre genauer hin, wenn mein Körper Warnsignale sendet. Und vor allem habe ich gelernt, dass der Weg zu wirklicher Gesundheit manchmal darin besteht, dem zu folgen, was uns wirklich wichtig ist – auch wenn es bedeutet, andere zu enttäuschen oder vermeintlich sichere Wege zu verlassen. Die Angst hat mich nicht schwächer, sondern stärker gemacht. Sie hat mich gezwungen, ehrlicher mit mir selbst zu sein. Und dafür bin ich heute sogar ein bisschen dankbar.

Bild-anonymer User

Jens L. aus Wismar