Wirken Antidepressiva wirklich?

    Wirken Antidepressiva wirklich? Bundesärztekammer kennt die Wahrheit.

    Es ist eine komplexe, sogar kontroverse Debatte, die seit einigen Jahren in medizinischen Kreisen stattfindet. Während ein wissenschaftlicher Fachausschuss der Bundesärztekammer nicht müde wird klarzustellen, dass Antidepressiva in den meisten Fällen kaum besser wirken als Placebos (Quellennachweis hier), sieht die Realität in deutschen Praxen völlig anders aus.

    Eine überwältigende Anzahl von Ärzten verschreibt diese Medikamente weiterhin und nicht weniger loben diese für Ihre angebliche Wirksamkeit. Aber warum ist das so? Immerhin sind die Beweise für die schwache Wirksamkeit mittlerweile erdrückend und die Liste potenzieller Nebenwirkungen lang. Die Antwort auf diese Frage ist komplex und mehrschichtig.

    Das machen wir schon immer so

    Einen wichtigen Faktor ist die Rolle von Gewohnheiten und Routine im medizinischen Bereich. Viele Behandlungsempfehlungen für Antidepressiva basieren auf eingeschliffenen klinischen Abläufen. Angehende Ärzte sehen während ihres Studiums und ihrer Ausbildung, wie häufig und schnell Antidepressiva verschrieben werden. Sie lernen, dass das der „normale“ Behandlungsverlauf ist. Diese Erkenntnis prägt ihr Verhalten und ihre Denkweisen.

    Wenn sie dann selbst ins Berufsleben einsteigen und im Hamsterrad des Klinikalltags gefangen sind, hinterfragen sie diese Praktiken oft nicht mehr. Sie sind an den konstanten Fluss der Medikamentenverordnungen gewöhnt und verschreiben ihrerseits auch Antidepressiva, ohne den Prozess ernsthaft in Frage zu stellen. Dies schafft eine sich selbst verstärkende Schleife, in der die Verschreibung von Antidepressiva immer mehr zur Norm wird, unabhängig von der tatsächlichen wissenschaftlichen Beweislage.

    Therapeutin bei Sitzung schreibend
    Angelov1@envato-elements

    Der Wunsch zumindest ein wenig zu helfen ist groß

    Der Wunsch, zu helfen, ist in der medizinischen Praxis ein starker Motivator. Ärzte und Psychotherapeuten sehen sich tagtäglich mit Patienten konfrontiert, die mit wiederkehrenden Panikattacken, schweren Depressionen und anderen psychischen Leiden kämpfen. Sie suchen dringend nach Lösungen, um diesen Menschen zu helfen. In solchen Fällen haben Antidepressiva bei einigen Patienten eine gewisse Linderung gezeigt.

    Ob diese Wirkung nun auf einem Placebo-Effekt beruht oder auf der aktiven pharmakologischen Komponente des Medikaments, ist oft eine sekundäre Überlegung. Die primäre Motivation für viele Ärzte ist der Glaube, dass diese Medikamente im Einzelfall hilfreich sein könnten. Sie sehen in erster Linie den potenziellen Nutzen, den eine Linderung der Symptome für das Leben eines Patienten haben könnte. Deshalb spielt das Risiko von Nebenwirkungen häufig auch eine untergeordnete Rolle und bleibt nicht selten völlig unerwähnt.

    Ein weiterer Aspekt darf nicht unterschätzt werden. Medizin ist nicht nur eine Wissenschaft, sie ist auch eine Kunst, die auf Empathie, Mitgefühl und dem Bestreben beruht, Leid zu lindern. Ärzte sind stets bestrebt, das Bestmögliche für ihre Patienten zu tun. Doch während dieser Wunsch nachvollziehbar und lobenswert ist, sollte er die Behandler nicht davon abhalten, die Wirksamkeit und Sicherheit der verwendeten Therapien regelmäßig mit den neusten Erkenntnissen der Forschung abzugleichen. Auch im besten Interesse der Patienten muss die wissenschaftliche Integrität gewahrt bleiben.

    Therapeutin, bei Behandlung, zuhörend und mitschreibend
    levinajuli@envato-elements

    Alternativen zu Antidepressiva: Eine Frage der Zeit und des Wissens

    Ein weiterer Grund, warum Antidepressiva trotz ihrer umstrittenen Wirksamkeit so häufig verschrieben werden, ist die lange Zeit fehlende Verfügbarkeit von alternativen Behandlungsmethoden. Bis vor einigen Jahren waren die Optionen begrenzt und meist auf Medikamente und klassische Psychotherapie beschränkt.

    Jüngere therapeutische Ansätze, die auf die Förderung der Neuroplastizität abzielen, wie beispielsweise die Bernhardt-Methode, sind erst seit wenigen Jahren auf dem Markt. Sie versprechen eine schnellere Erholung, da sie gezielt die Fähigkeit des Gehirns zur Selbstheilung und Anpassung nutzen, anstatt sich auf Pharmakotherapie zu verlassen. Diese Methoden sind jedoch noch nicht allgemein bekannt, und Ärzte, die nicht aktiv nach Alternativen zu Medikamenten suchen, können diese leicht übersehen.

    Hinzukommt, dass klassische Psychotherapie zeitaufwändig ist und oft lange Wartelisten hat. Viele Patienten, die unter schweren Symptomen leiden, suchen nach sofortiger Linderung, und in solchen Fällen erscheinen Antidepressiva als die einzige sofort verfügbare Option. Dies kann Ärzte dazu veranlassen, Medikamente zu verschreiben, selbst wenn sie Zweifel an deren Wirksamkeit haben.

    Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass Ärzte und Patienten über die neuesten therapeutischen Entwicklungen und Alternativen zu Medikamenten informiert sind. Durch eine umfassende Aufklärung können wir sicherstellen, dass jeder die bestmögliche und am besten geeignete Behandlung erhält. Dies erfordert jedoch ein Engagement für lebenslanges Lernen und die Bereitschaft, alte Praktiken zu hinterfragen und neue Ansätze zu begrüßen.

    Mediziner bei Schulung
    Prostock-studio@envato-elements

    Der Einfluss der Pharmaindustrie: Eine Frage des Profits

    Es wäre fahrlässig, den Einfluss der Pharmaindustrie auf das Verschreibungsverhalten von Ärzten nicht zu berücksichtigen. Die pharmazeutische Industrie ist ein mächtiger Akteur im Gesundheitssystem und hat natürlich ein finanzielles Interesse daran, dass ihre Produkte verkauft werden. Diese wirtschaftliche Antriebskraft kann dazu führen, dass die positiven Aspekte von Antidepressiva überbetont und die negativen Aspekte heruntergespielt werden.

    Sowohl Krankenhäuser als auch Ärzte und Patientenorganisationen können von den Zuwendungen bestimmter Pharmakonzerne profitieren. Diese finanzielle Verbindung kann potenziell zu einem Interessenkonflikt führen und dazu beitragen, dass weiterhin Medikamente verschrieben werden, deren Nutzen für die Patienten geringer ist als das Risiko der Nebenwirkungen.

    In Deutschland sind laut Süddeutscher Zeitung beispielsweise rund 15.000 Pharmavertreter unterwegs, die jährlich rund 20 Millionen Besuche in Praxen und Kliniken machen. Diese Vertreter sind darauf trainiert, die Vorteile der Produkte ihres Unternehmens zu betonen und eine positive Beziehung zu den Ärzten aufzubauen, die die Medikamente verschreiben.

    Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Ärzte unkritisch Medikamente verschreiben, nur weil sie von einem Pharmavertreter besucht wurden. Es ist wichtig, diese Beziehungen im Kontext zu sehen und zu erkennen, dass viele Faktoren das Verschreibungsverhalten beeinflussen. So spielt z.B. auch der chronische Zeitmangel, unter dem viele Ärzte aufgrund der Vorgaben unseres Gesundheitssystems leiden, eine wichtige Rolle. Um klinische Entscheidungen regelmäßig mit dem neusten Stand der Forschung abzugleichen, fehlt oft schlicht die Zeit.

    Mediziner sich den Nasenrücken drückend vor dem Computer bei Stress
    YuriArcursPeopleimages@envato-elements

    Die Trägheit im medizinischen System: Ein Rennen gegen die Zeit

    Eine weitere Hürde bei der Umsetzung neuerer, evidenzbasierter Therapieansätze ist die inhärente Trägheit im medizinischen System. Wissenschaftliche Erkenntnisse durchlaufen einen langen Prozess, bis sie in die klinische Praxis integriert werden. Die Übersetzung von Forschungsergebnissen in die Behandlungsstandards kann Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte dauern.

    Dieses Phänomen ist als „Translational Gap“, also Übersetzungslücke, bekannt und stellt eine der größten Herausforderungen in der modernen Medizin dar. Es besteht eine beachtliche Diskrepanz zwischen dem, was die Forschung zeigt, und dem, was tatsächlich in der klinischen Praxis angewendet wird. Die ironische Konsequenz ist, dass der „neueste Stand“ der Medizin oft auf Erkenntnissen basiert, die bereits etliche Jahre alt sind und bis zu ihrer Implementierung möglicherweise bereits von neueren Forschungsergebnissen überholt wurden.

    Dieser träge Prozess der Wissensvermittlung ist sicherlich einer der Gründe, warum Antidepressiva trotz neuerer Erkenntnisse über ihre relative Ineffektivität immer noch so häufig verschrieben werden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer schnelleren und effektiveren Übersetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis, um sicherzustellen, dass Patienten die aktuellste und wirksamste Behandlung erhalten. Es verdeutlicht auch die Rolle von Ärzten als lebenslange Lernende, die stets bemüht sein sollten, ihr Wissen auf dem neuesten Stand zu halten, um die bestmögliche Versorgung für ihre Patienten zu gewährleisten.

    Frau, vor Tablettenblistern grübelnd, fragend schauend

    Schlussfolgerung

    Das Dilemma, vor dem wir stehen, ist klar: Einerseits gibt es Beweise dafür, dass Antidepressiva nicht besser wirken als Placebos. Andererseits gibt es eine große Anzahl von Ärzten, die diese Medikamente nach wie vor empfehlen und verschreiben. Dies zeigt, dass wir mehr Transparenz und Aufklärung in der Medizin brauchen. Es ist wichtig, dass Ärzte und Patienten gleichermaßen Zugang zu unvoreingenommenen Informationen über die Wirksamkeit von Medikamenten haben. Nur so können sie fundierte Entscheidungen über ihre Gesundheitsversorgung treffen.

    Und es ist an der Zeit, dass wir den Diskurs um Antidepressiva ehrlich führen und uns nicht nur auf die vermeintlichen Vorteile, sondern auch auf die realen Nachteile konzentrieren. Die Gesundheit und das Wohlergehen der Patienten sollten immer an erster Stelle stehen. Zudem sollten Betroffene deutlich schneller über neue Behandlungsformen informiert werden, die auch ohne Medikamente auskommen und die dennoch oft mit erstaunlich schnellen Heilungsverläufen aufwarten können.

    Über den Autor

    Klaus Bernhardt leitet zusammen mit seiner Frau Daniela Bernhardt das Institut für moderne Psychotherapie in Berlin.​ Gemeinsam arbeiten sie dort mit Ärzten, Neurowissenschaftlern und psychologischen Psychotherapeuten daran, die Behandlungsdauer von psychischen Erkrankungen deutlich zu verkürzen. Ziel ist es zudem, den Einsatz von Psychopharmaka weitgehend zu vermeiden, da diese häufig zu Nebenwirkungen führen können, die Betroffene zusätzlich belasten.