Aphantasie und psychische Probleme

Aphantasie und psychische Probleme: Was hilft?

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von Klaus Bernhardt

Ca. 2 % aller Menschen haben Schwierigkeiten damit, sich etwas bildlich vorzustellen. Das kann zum Problem werden, wenn psychotherapeutischen Hilfe benötigt wird. Denn viele gängige Therapieverfahren benötigen die visuelle Vorstellungskraft des Patienten, um etwas bewirken zu können. Welche Therapien dennoch geeignet sind, um auch Menschen mit Aphantasie z.B. bei Depressionen oder Angststörungen zu helfen, das klärt dieser Blogartikel vom Institut für moderne Psychotherapie in Berlin.

Was ist Aphantasie?

Das Phänomen der mangelnden Vorstellungskraft wurde erstmals 1880 von Francis Galton, einem britischen Naturforscher, beschrieben. Er befragte 100 Männer zu ihrem Frühstückstisch und bat sie, diesen bildlich detailliert zu beschreiben. Zu seinem Erstaunen konnten 10 der Befragten mit dieser Frage wenig anfangen und hatten kein oder nur ein verschwommenes Bild vor Augen. Francis Galton befragte weitere Probanden und hielt dieses Phänomen daraufhin für weit verbreitet. Seine Beobachtung geriet in Vergessenheit, bis 130 Jahre später der britische Neurologe Adam Zeman auf einen Patienten stieß, der nach einer Operation sein bildliches Vorstellungsvermögen verloren hatte. Der Patient, der vorher gerne Romane gelesen hatte und in lebhaften Phantasiewelten schwelgte, sah plötzlich nichts mehr vor seinem inneren Auge. Alles blieb schwarz.  Auch Familienmitglieder entzogen sich seiner bildlichen Vorstellung.  Zeman begann über das Thema zu forschen und veröffentlichte 2015 eine Studie zu dem Phänomen der mangelnden Vorstellungskraft, das er als Aphantasie –  Abwesenheit von Phantasie– bezeichnete. Er fand heraus, dass manche Menschen eine angeborene Aphantasie haben, während andere erst später im Leben eine mangelnde Vorstellungskraft entwickeln, wenn sie beispielsweise einen Unfall oder Schlaganfall hatten. Erstaunlich ist auch, dass Menschen mit Aphantasie zwar keine Schäfchen vor dem Einschlafen zählen können, aber dafür im Stande sind, zu träumen. Das legt nahe, dass ihnen nur das bewusste bildliche Vorstellungsvermögen fehlt. Zeman, der immer noch an dem Phänomen forscht, beobachtete in Gehirnscans, dass Betroffene Informationen in anderen Gehirnregionen verarbeiten als Nicht-Betroffene. Deswegen wird Aphantasie nicht als Krankheit, sondern als Abweichung von der Normalität eingeordnet.  Bezeichnenderweise arbeiteten viele Betroffene, die sich bei Zeman im Rahmen der Studie meldeten, in kreativen Berufen.

Zeman fand heraus, dass Menschen mit Aphantasie eigene Strategien entwickeln, um die Einschränkung zu kompensieren. Dies erklärt auch, warum Menschen mit einer angeborenen Aphantasie oftmals überhaupt nicht wissen, dass sie ein fehlendes bildhaftes Vorstellungsvermögen haben.

Betroffene wissen oft nicht, dass sie Aphantasie haben

Dies war auch der Fall bei einem Patienten, der zu mir in die Praxis kam. Der junge Mann litt unter sozialer Phobie. Es begann damit, dass er als Jugendlicher ein Referat in der Schule halten musste. Das Thema lag ihm nicht, er fühlte sich schon immer unwohl unter den Augen anderer und so entwickelte sich das ganze zum Desaster. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und schließlich stand er wortlos vor seinen Mitschülern, die tuschelten und kicherten. Die Lehrerin reagierte schnell und einfühlsam. Er musste das Referat nicht weiter halten. Schweißgebadet und mit rasendem Herzen ging er auf die Toilette, um sich zu beruhigen. Aber leider konnte er sich die folgenden Jahre überhaupt nicht mehr beruhigen. Das lebhafte Kichern und Tuscheln der Mitschüler blieben meinem Patienten quälend in Ohr. Die Angst, sich öffentlich zu blamieren, beherrschte ihn immer mehr und setzte ihm körperlich zu. Ihm wurde übel und er bekam Atemnot. Also vermied er Partys, Treffen mit mehreren Freunden und ging auch nicht mehr zum Essen in Restaurants. Dementsprechend fiel auch seine Berufswahl aus. Mein Patient wurde Buchhalter in einer Firma ohne Publikumsverkehr. Trotz seiner sozialen Angst blieb tief im Inneren sein glühender Berufswunsch bestehen: Er wollte Architektur studieren. Zuhause bereitete er eine Mappe mit Zeichnungen für einen Eignungstest an der Universität vor. Aber zu dem Eignungstest gehört auch ein persönliches Gespräch, in dem der Bewerber seine Motivation für den Beruf beschreibt. Und dabei rückte sein Wunsch in scheinbar unerreichbare Ferne.

Als er vor mir saß, klagt er, dass er alles versucht hätte, um die Angst loszuwerden. Der gut gemeinte Ratschlag, sich Menschen, vor denen man redet, nackt vorzustellen, wäre völlig sinnlos. Da wäre alles immer nur schwarz vor seinen Augen. Als ich das hörte, hatte ich einen Verdacht. Ich fragte ihn, was er in seiner Bewerbungsmappe gezeichnet hätte. Ein Entwurf für ein Kongresszentrum, antwortete mein Patient. Als ich interessiert nachfragte, ob er mir den Entwurf beschreiben könne, zuckte mein Patient mit den Schultern. Es stellte sich heraus, dass er sich das Kongresszentrum, das er selbst entworfen hatte, nicht bildlich vorstellen konnte. Ich fragte, wie er denn auf den Entwurf gekommen sei. Ganz einfach, antwortete mein Patient. Er fand im Internet ein Bild von einem Gebäude in Tokio, das ihm sehr gefiel. Anhand dessen zeichnete er seinen Entwurf als eigene Variation. Da wurde mir klar, dass mein Patient nicht wusste, dass er von Aphantasie betroffen ist. Aber er hatte unbewusst eine Strategie entwickelt:  Anhand des vorgegebenen Bildes konnte er seine Zeichnung anfertigen, da ihm die bildliche Vorstellungskraft fehlte, seinen Entwurf im Kopf zu visualisieren.

Da auch bei einer psychotherapeutischen Behandlung die visuelle Vorstellungskraft eine große Rolle spielt, war nun die entscheidende Frage: Welche Therapieform ist geeignet, um auch Menschen mit Aphantasie bei der Überwindung von Angststörungen oder Depressionen optimal zu unterstützen?

Aphantasie und psychische Störungen:
Welche Behandlung hilft?

Für Menschen mit Aphantasie ist es nicht einfach, sich auf eine Psychotherapie einzulassen. Das liegt vor allem daran, dass für viele psychotherapeutische Behandlungsmethoden ein gutes visuelles Vorstellungsvermögen Grundvoraussetzung ist, um die Therapie erfolgreich durchzuführen. Deshalb sträuben sich manche Betroffene regelrecht, derartige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Selbst wenn man sich noch nicht bewusst ist, dass eine Aphantasie vorliegt, so merken Betroffene doch unterbewusst, dass ihnen der Zugang zur therapeutischen Wirksamkeit verwehrt bleibt.

Eine Ausnahme hierbei bildet die sogenannte „Bernhardt-Methode“, weil hier neben dem visuellen Vorstellungsvermögen auch alle vier weiteren Sinneskanäle gleichberechtigt angesprochen werden. In diesem Fall können auch Menschen mit Aphantasie erfolgreich therapiert werden und es gibt sogar die Möglichkeit der Selbsttherapie mithilfe eines Online-Videokurses.

Das ist auf jeden Fall besser und gesünder, als der Versuch, sein Leben mit Hilfe von Psychopharmaka wieder in den Griff zu bekommen. Denn hier sind die Risiken oft weit größer als die Chancen, auch wenn viele sich dessen gar nicht bewusst sind.

Warum psychische Probleme bei bestehender Aphantasie NICHT medikamentös behandelt werden sollten

Viele Mediziner raten bei Depressionen und Angststörungen zu einer Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie. Da jedoch gängige psychotherapeutische Methoden bei Menschen mit Aphantasie häufig nicht wirken, scheint die medikamentöse Behandlung oft der einzig verbleibende Weg zu sein. Bringt dieser dann nicht den gewünschten Erfolg, wird meist die Dosis immer weiter erhöht, in der Hoffnung, dass dann endlich die erlösende Wirkung einsetzt.

Wie sinnlos, ja teilweise sogar gefährlich dieser Therapieansatz jedoch sein kann, beweist eine neue Metastudie zu Antidepressiva, die kürzlich im Psychotherapeutenjournal 4/2018 (Seite 324) veröffentlicht wurde.

Mittlerweile gilt es als erwiesen, dass Antidepressiva noch nicht mal bei der Krankheit, der die Medikamente ihren Namen zu verdanken haben, also bei Depressionen, sonderlich gut wirken. Bei gerade mal 14 % aller Patienten konnte eine positive Wirkung festgestellt werden. Bei 86 % zeigte die Medikation hingegen gar keine Wirkung oder führte zu einer Reihe von teilweise schweren Nebenwirkungen. Ein Blick in den Beipackzettel eines beliebigen antidepressiven Medikaments zeigt, dass die Liste der sehr häufigen Nebenwirkungen gravierend ist:  Übelkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Schläfrigkeit, Schlaflosigkeit, Schwitzen, Mundtrockenheit und Verstopfung.  Dass diese „möglichen“ Nebenwirkungen auch tatsächlich häufig eintreffen, bestätigt ein bereits 2018 veröffentlichter Artikel in der Deutschen Apotheker-Zeitung. Demnach gilt mittlerweile als erweisen, dass drei Viertel aller Psychopharmaka zu Schlafstörungen führen. Noch nicht einmal erwähnt werden nicht so häufigen Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen, Verlust der Sexualität oder Gewichtszunahme, die das Leben der Patienten zusätzlich schwer belasten.

Antidepressiva sollten deshalb, wenn überhaupt, nur bei schweren Depressionen eingesetzt werden und auch dann nur wenige Wochen, bis eine grundsätzliche Therapiefähigkeit wieder hergestellt wurde. Für leichte und Mittelschwere Depressionen sowie für alle Formen der Angststörung sollte alternative Behandlungsmethoden gewählt werden. Doch welche Alternative ist für Menschen mit Aphantasie geeignet und welche nicht?

Warum Psychotherapie für Menschen mit Aphantasie manchmal problematisch ist

Und hier stellt sich die Frage, wie wirksam sind all diese Therapieformen für Menschen mit Aphantasie? Für meinen Patienten mit der sozialen Phobie wäre die kognitive Verhaltenstherapie z.B. eher frustrierend. Denn er besitzt nicht die Fähigkeit, sich angstbesetzte Denkmuster bildlich vorzustellen. Auch bei einer Gesprächstherapie würde er schnell an Grenzen stoßen. Denn in diesem Fall müsste er mit Hilfe seines visuellen Vorstellungsvermögens über seine Probleme sprechen. Aber wie soll das gehen, wenn er sich nicht einmal seinen selbst gezeichneten Entwurf bildlich vorstellen kann?

Wenn Sie jetzt denken, eine Konfrontationstherapie wäre in diesem Fall aber sicher geeignet, dann muss ich leider enttäuschen. Wie Klaus Bernhardt, der Leiter des Instituts für moderne Psychotherapie, in seinem Spiegel-Bestseller Panikattacken und andere Angststörungen loswerden schildert, hilft diese Form der Therapie oft nur in einer frühen Entstehungsphase der Angst. Besteht die Angststörung hingegen schon länger, wird Sie durch eine Konfrontationstherapie unter Umständen sogar noch verschlimmert. Im Falle meines Patienten hätte die wiederholte Konfrontation mit einer mündlichen Prüfungs-Situation vielleicht noch funktioniert. Die Angsterkrankung wäre dadurch aber nicht verschwunden, sondern es wäre nur zu einer vorübergehenden Abstumpfung der Angstgefühle gekommen.

Da sich jeder Gedanke neuronal im Gehirn vernetzt und diese Vernetzungen umso leistungsfähiger werden, je stärker die begleitenden Emotionen sind, bilden sie mit jeder Konfrontation neben ein paar Hundert positiven Synapsen, auch Tausende von negativen neuronalen Verbindungen. Im Fall meines Patienten würde er bei jeder simulierten Prüfungs-Situation zwar sehen, dass er die Situation „überleben“ und bestehen kann. Aber auf der anderen würde dabei ständig sein Angsterlebnis neuronal gefüttert werden: Nämlich von Anderen als peinlich oder schlecht abgeurteilt zu werden.

Wahrscheinlich würde er ständig ein Kichern und Tuscheln oder Auslachen befürchten oder sogar hören. Und genau hier gibt es unter anderem im auditiven Bereich (also dem Hör-Sinn) eine wirksame Behandlungsmöglichkeit, um den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen:

Für Menschen mit Aphantasie hervorragend geeignet: Die Bernhardt-Methode

Die Bernhardt-Methode wird seit einigen Jahren erfolgreich bei Angststörungen eingesetzt und hat sich auch bei depressiven Verstimmungen gut bewährt. Sie kommt vollständig ohne den Einsatz von Medikamenten aus und ist auch für Menschen mit Aphantasie hervorragend geeignet. Das liegt daran, dass bei dieser Methode neben dem visuellen Kanal auch die anderen Kanäle, wie das Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken aktiv in den Therapieprozess mit einbezogen werden.

Denn gerade Betroffene mit Aphantasie beschäftigen sich bei Angststörungen viel mehr mit dem auditiven Kanal.  Das bedeutet, dass in erster Linie innere Dialoge für die psychische Gesundheit verantwortlich sind. Die Betroffenen reden viel mit sich selbst, und aktivieren damit sowohl Panik und Angst, also auch das eigene Glücksempfinden.

Die Bernhardt-Methode gibt Menschen mit Aphantasie die Möglichkeit, ihr Gehirn mit einfachen Übungen und Techniken positiv umzutrainieren. Sie orientiert sich dabei an den neuesten Erkenntnissen der modernen Hirnforschung. Wie diese Methode genau funktioniert, erfahren Sie in einem Video, das ich HIER für Sie verlinkt habe. Es ist die erste von 52 Folgen eines neuen Online-Videokurses, den wir speziell für Menschen mit Angststörungen entwickelt haben.

Mein Patient hat übrigens nicht nur den Mut aufgebracht, sich zum Eignungstest für das Architekturstudium anzumelden, er hat diese Aufgabe auch erfolgreich gemeistert. Mit Hilfe der 10-Satz-Methode und der 5 Kanal-Technik konnte er innerhalb weniger Wochen so viele positive Vernetzungen in seinem Kopf aufbauen, dass er ruhig und selbstbewusst vor die Prüfungskommission treten konnte.  Übrigens: Um während der Therapie den visuellen Kanal dennoch optimal nutzen zu können, haben wir mit einem kleinen Trick gearbeitet: Der junge Mann hat sich im Internet Bilder heruntergeladen, die Männer zeigen, die erfolgreich und voller Selbstsicherheit vor größeren Gruppen sprechen. Per Bildbearbeitungsprogramm hat er dann den eigenen Kopf auf die Vortragenden montiert und diese Bilder während der Arbeit mit der 10-Satz-Methode verwendet.

Über den Autor

Klaus Bernhardt leitet zusammen mit seiner Frau Daniela Bernhardt das Institut für moderne Psychotherapie in Berlin.​ Gemeinsam arbeiten sie dort mit Ärzten, Neurowissenschaftlern und psychologischen Psychotherapeuten daran, die Behandlungsdauer von psychischen Erkrankungen deutlich zu verkürzen. Ziel ist es zudem, den Einsatz von Psychopharmaka weitgehend zu vermeiden, da diese häufig zu Nebenwirkungen führen können, die Betroffene zusätzlich belasten.